Dienstag, 17. April 2012

Alle Jahre wieder: Das EU-Heilpflanzenverbot

Es ist schön, dass man sich in unserer immer schneller werdenden Welt noch auf einige Dinge verlassen kann: Jedes Jahr um den 24. Dezember herum ist Weihnachten und um den 1. Mai herum verbietet die EU alle Heilpflanzen. Letzteres behaupten zumindest einige Kettenbriefe, die seit 2010 immer wieder neu im Umlauf sind. Doch was ist wirklich dran?

Es erinnert schon fast an die teils sehr bizarren Vorhersagen eines  unmittelbar bevorstehenden Weltunterganges, wenn mal wieder von einem EU-Verbot pflanzlicher Arzneimittel die Rede ist. Laut Rundschreiben aus dem Jahre 2010 sollte dieses Verbot bereits zum 1. April 2011 in Kraft treten. Spätestens im Frühjahr 2011 hat man aber noch einmal nachgerechnet und die Apokalypse auf den 30. April bzw. 1. Mai verschoben. Da diese nachweislich ausgeblieben ist, wurde jetzt ein neuer Termin für den 1. Mai 2012 angesetzt. Und da die Welt bekanntlich Ende 2012 untergehen wird, bleibt uns vielleicht ein neues Datum 2013 erspart...

In den Rundschreiben und Petitionen ist immer wieder von einer EU-Richtlinie namens Traditional Herbal Medical Product Directive (THMPD) die Rede, die tatsächlich existiert. Sie wurde 2004 verabschiedet und gilt in Deutschland seit 2005. Es handelt sich dabei aber nicht um ein Verbot von Heilpflanzen oder pflanzlichen Arzneimitteln, sondern vielmehr um eine Angleichung der Zulassungsstandards rezeptfreier pflanzlicher Fertigarzneimittel auf EU-Ebene. In Deutschland gibt es schon seit längerer Zeit relativ strenge Gesetze, weshalb die Auswirkungen der Richtlinie hierzulande vergleichsweise gering sind.

Wesentlich härter als den deutschen Markt trifft es bspw. den britischen, wo bislang "traditionelle Arzneimittel" ohne besondere Zulassungsbeschränkungen vertrieben werden durften. So konnten dort ohne Probleme Präparate aus Asien verkauft werden, die (wissentlich) stark mit Schadstoffen wie Blei, Arsen und Quecksilber belastet sind. Und genau dort nahm die ganze Heilpflanzenverbots-Kampagne ihren Anfang: Eine Lobbyfirma aus Dorking, die sich um die Belange der entsprechenden Industrie kümmert, setzte 2010 das Gerücht vom Heilpflanzenverbot in die Welt. Man sah schlichtweg seine mit Arsen verseuchten Pillen davonschwimmen...

Nach Deutschland schwappte die Panik dann mittels einschlägiger Blogs für Verschwörungstheorien über. Im Herbst 2010 unterzeichneten mehr als 120.000 Bürger eine Petition an den Bundestag, eine weitere Petition auf internationaler Ebene hat gegenwärtig annähernd 900.000 virtuelle Unterschriften. Doch beide Petitionen sind inhaltlich falsch und gehen am eigentlichen Thema vorbei.

Ein imaginäres Beispiel:
Nehmen wir an, ein Mönch hätte im Mittelalter eine Handschrift verfasst, in der die besondere Heilwirkung gewöhnlichen Strohs behandelt wird. Nehmen wir außerdem an, in dieser Handschrift sei von einer Verstärkung der Heilwirkung durch die Beigabe von Blei die Rede. In einigen Ländern der EU wäre dieses "traditionelle Arzneimittel" bislang frei verkäuflich gewesen, in Deutschland jedoch nicht. Würde man jetzt dieses Stroh (ohne das Blei) als Nahrungsmittel anbieten und eine Heilwirkung lediglich implizieren, so wäre dies weiterhin vollkommen legal - auch nach der Direktive. Würde man einen Arzt oder Apotheker finden, der bereit ist zu unterschreiben, so könnte man das Stroh ggf. sogar weiterhin als Arzneimittel verkaufen - denn es hat ja eine Tradition und ist scheinbar nicht gesundheitsgefährdend. Ein Wirksamkeitsnachweis wäre nach wie vor nicht unbedingt notwendig.

THMPD ist im Grunde also Verbraucherschutz und keineswegs ein Feldzug der Hersteller chemischer Arzneimittel, wie immer suggeriert wird. Kaum ein Pharmakonzern kommt ohne Pflanzenextrakte aus - schon gar nicht die Global Player. Pflanzliche Arzneimittel sind ein riesiges Geschäft und auch die ach so böse Pharmaindustrie verdient kräftig daran mit. Pflanzen sind aber nicht immer ungefährlich, sondern können zum Teil lebensgefährliche Vergiftungen hervorrufen. Hierzu muss man aber erst einmal wissen, was in manch geheimnisvollem Präparat überhaupt enthalten ist...


Mittwoch, 11. April 2012

DER SPIEGEL und die Medizin

Mit Gesundheitsthemen lassen sich sehr einfach Auflage und Klicks generieren, das weiß natürlich auch DER SPIEGEL. Dass dabei journalistische Grundsätze sehr schnell über Bord gehen, das ist allgemein bekannt. Einige Beispiele:

Das Titelthema der Ausgabe vom 16. Januar 2012 war "Die Vitaminlüge". An den direkten Reaktionen, zum überwiegenden Teil aus der Fachwelt, war leicht zu erkennen, wie wenig Neues die Kampagne, die sich über Heft, Online-Artikel und Videos erstreckte, eigentlich zu bieten hatte. Und ausgewogen dargestellt wurde das Thema auch nicht. Es wurden vielmehr alle Vitamine über einen Kamm geschert, seriöse und unseriöse Hersteller in einen Topf geworfen und die Bevölkerung verunsichert:

"[Vitaminpräparate] könnten nach SPIEGEL-Informationen sogar für Tausende Todesfälle verantwortlich sein."

Oha!

Die Stellungnahmen sahen wie folgt aus:
"Neue Erkenntnisse bringt der Bericht nicht, er wärmt alte Studien auf, schießt gegen die Pharmaindustrie und gibt einem allbekannten Gesundheitspolitiker Raum, Stimmung zu machen."
- Deutsche Apotheker Zeitung

"Zunächst einmal stellt sich die Frage, welche Relevanz die im SPIEGEL zitierten Studienergebnisse überhaupt für den europäischen bzw. deutschen Verbraucher von Lebensmitteln haben. Den Studien, die eine Schädlichkeit von Vitamin- oder Mineralstoffpräparaten belegen sollen, liegen Dosierungen zu Grunde, die weit über den in Deutschland üblichen Mengen liegen, oftmals sogar über den als sicher bewerteten Höchstmengen (ULs)."
- Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V.

"Wo sind denn die Fälle aus der Praxis, in denen es zu Gesundheitsschäden gekommen ist? Im Ergebnis hätte man von einem Leitartikel des Spiegels eine bessere Recherche und mehr Objektivität erwarten können."
- juravendis Rechtsanwälte

Die Kampagne ist derweil so schnell gegangen wie sie gekommen war - viel heiße Luft um nichts. Man gräbt noch immer nach den "Tausenden von Todesfällen".


Gestern brachte SPIEGEL ONLINE einen Artikel mit der Headline "Mediziner erklären Fischöl-Kapseln für nutzlos". Behandelt wird eine Analyse diverser Studien, die im Fachmagazin "Archives of Internal Medicine" veröffentlicht wurde. Credo dieser Analyse inklusive des beigefügten Kommentars: "In einem sind sich die Forscher und die beiden Verfasser des Kommentars deshalb einig: Weitere Untersuchungen sind nötig..." - was so wortwörtlich sogar im SPIEGEL-Artikel steht. Die Analyse hat also keine wirklichen Erkenntnisse gebracht (weiteres Zitat SPIEGEL: "Und so bleibt es vorerst weiter eine Glaubensfrage, ob man Fischöl-Kapseln einnimmt oder nicht..."), aber mit der Headline hat man vielleicht ein paar Klicks generiert und einige Leser ausreichend verunsichert. Herzlichen Glückwunsch!


Heute dann der nächste Brüller: "'Heilpflanzen' verursachen Krebs". Nach dem ersten Schock: Ach so, nur die Heilpflanzen der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) verursachen also Krebs! Etwas weiter dann: "Hierzulande sind die sogenannten Aristolochia-Produkte verboten" und ganz am Schluss: "In Deutschland sind Arzneimittel auf Basis dieser Pflanzengattung schon länger verboten. In Belgien erkrankten in den neunziger Jahren mehrere Frauen an Nierenversagen, die die Präparate im Rahmen von Diätkuren geschluckt hatten. In China und Taiwan wurden diese Produkte 2003 verboten."

Moment, wie jetzt? Selbst in China ist das Zeugs bereits seit fast einem Jahrzehnt verboten und bei uns sowieso? (Wen es interessiert: Bereits seit 1981!) Was soll dann dieser ganze Artikel? Sie ahnen es bereits: Mit der Headline hat man vielleicht ein paar Klicks generiert und einige Leser ausreichend verunsichert. Herzlichen Glückwunsch!


Gerade die beiden sehr aktuellen Beispiele zeigen, wie mit fragwürdigen Praktiken Content erzeugt wird, der dann hoffentlich einen ausreichenden Traffic generiert. Die Informationen zu Fischöl und Aristolochia haben für Otto-Normalleser keinerlei Relevanz und würden sauber aufbereitet selbst in Fachpublikationen kaum auffallen. Zusammen mit der Titelgeschichte aus dem Januar ergibt sich ein Bild, das gelinde gesagt erschreckend ist:

Medizinische Themen im SPIEGEL sind in jüngster Zeit wenig informativ und tendentiell gesundheitsschädlich - für das Nervenkostüm der Leser.