Mittwoch, 11. April 2012

DER SPIEGEL und die Medizin

Mit Gesundheitsthemen lassen sich sehr einfach Auflage und Klicks generieren, das weiß natürlich auch DER SPIEGEL. Dass dabei journalistische Grundsätze sehr schnell über Bord gehen, das ist allgemein bekannt. Einige Beispiele:

Das Titelthema der Ausgabe vom 16. Januar 2012 war "Die Vitaminlüge". An den direkten Reaktionen, zum überwiegenden Teil aus der Fachwelt, war leicht zu erkennen, wie wenig Neues die Kampagne, die sich über Heft, Online-Artikel und Videos erstreckte, eigentlich zu bieten hatte. Und ausgewogen dargestellt wurde das Thema auch nicht. Es wurden vielmehr alle Vitamine über einen Kamm geschert, seriöse und unseriöse Hersteller in einen Topf geworfen und die Bevölkerung verunsichert:

"[Vitaminpräparate] könnten nach SPIEGEL-Informationen sogar für Tausende Todesfälle verantwortlich sein."

Oha!

Die Stellungnahmen sahen wie folgt aus:
"Neue Erkenntnisse bringt der Bericht nicht, er wärmt alte Studien auf, schießt gegen die Pharmaindustrie und gibt einem allbekannten Gesundheitspolitiker Raum, Stimmung zu machen."
- Deutsche Apotheker Zeitung

"Zunächst einmal stellt sich die Frage, welche Relevanz die im SPIEGEL zitierten Studienergebnisse überhaupt für den europäischen bzw. deutschen Verbraucher von Lebensmitteln haben. Den Studien, die eine Schädlichkeit von Vitamin- oder Mineralstoffpräparaten belegen sollen, liegen Dosierungen zu Grunde, die weit über den in Deutschland üblichen Mengen liegen, oftmals sogar über den als sicher bewerteten Höchstmengen (ULs)."
- Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V.

"Wo sind denn die Fälle aus der Praxis, in denen es zu Gesundheitsschäden gekommen ist? Im Ergebnis hätte man von einem Leitartikel des Spiegels eine bessere Recherche und mehr Objektivität erwarten können."
- juravendis Rechtsanwälte

Die Kampagne ist derweil so schnell gegangen wie sie gekommen war - viel heiße Luft um nichts. Man gräbt noch immer nach den "Tausenden von Todesfällen".


Gestern brachte SPIEGEL ONLINE einen Artikel mit der Headline "Mediziner erklären Fischöl-Kapseln für nutzlos". Behandelt wird eine Analyse diverser Studien, die im Fachmagazin "Archives of Internal Medicine" veröffentlicht wurde. Credo dieser Analyse inklusive des beigefügten Kommentars: "In einem sind sich die Forscher und die beiden Verfasser des Kommentars deshalb einig: Weitere Untersuchungen sind nötig..." - was so wortwörtlich sogar im SPIEGEL-Artikel steht. Die Analyse hat also keine wirklichen Erkenntnisse gebracht (weiteres Zitat SPIEGEL: "Und so bleibt es vorerst weiter eine Glaubensfrage, ob man Fischöl-Kapseln einnimmt oder nicht..."), aber mit der Headline hat man vielleicht ein paar Klicks generiert und einige Leser ausreichend verunsichert. Herzlichen Glückwunsch!


Heute dann der nächste Brüller: "'Heilpflanzen' verursachen Krebs". Nach dem ersten Schock: Ach so, nur die Heilpflanzen der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) verursachen also Krebs! Etwas weiter dann: "Hierzulande sind die sogenannten Aristolochia-Produkte verboten" und ganz am Schluss: "In Deutschland sind Arzneimittel auf Basis dieser Pflanzengattung schon länger verboten. In Belgien erkrankten in den neunziger Jahren mehrere Frauen an Nierenversagen, die die Präparate im Rahmen von Diätkuren geschluckt hatten. In China und Taiwan wurden diese Produkte 2003 verboten."

Moment, wie jetzt? Selbst in China ist das Zeugs bereits seit fast einem Jahrzehnt verboten und bei uns sowieso? (Wen es interessiert: Bereits seit 1981!) Was soll dann dieser ganze Artikel? Sie ahnen es bereits: Mit der Headline hat man vielleicht ein paar Klicks generiert und einige Leser ausreichend verunsichert. Herzlichen Glückwunsch!


Gerade die beiden sehr aktuellen Beispiele zeigen, wie mit fragwürdigen Praktiken Content erzeugt wird, der dann hoffentlich einen ausreichenden Traffic generiert. Die Informationen zu Fischöl und Aristolochia haben für Otto-Normalleser keinerlei Relevanz und würden sauber aufbereitet selbst in Fachpublikationen kaum auffallen. Zusammen mit der Titelgeschichte aus dem Januar ergibt sich ein Bild, das gelinde gesagt erschreckend ist:

Medizinische Themen im SPIEGEL sind in jüngster Zeit wenig informativ und tendentiell gesundheitsschädlich - für das Nervenkostüm der Leser.


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