Es ist schön, dass man sich in unserer immer schneller werdenden Welt noch auf einige Dinge verlassen kann: Jedes Jahr um den 24. Dezember herum ist Weihnachten und um den 1. Mai herum verbietet die EU alle Heilpflanzen. Letzteres behaupten zumindest einige Kettenbriefe, die seit 2010 immer wieder neu im Umlauf sind. Doch was ist wirklich dran?
Es erinnert schon fast an die teils sehr bizarren Vorhersagen eines unmittelbar bevorstehenden Weltunterganges, wenn mal wieder von einem EU-Verbot pflanzlicher Arzneimittel die Rede ist. Laut Rundschreiben aus dem Jahre 2010 sollte dieses Verbot bereits zum 1. April 2011 in Kraft treten. Spätestens im Frühjahr 2011 hat man aber noch einmal nachgerechnet und die Apokalypse auf den 30. April bzw. 1. Mai verschoben. Da diese nachweislich ausgeblieben ist, wurde jetzt ein neuer Termin für den 1. Mai 2012 angesetzt. Und da die Welt bekanntlich Ende 2012 untergehen wird, bleibt uns vielleicht ein neues Datum 2013 erspart...
In den Rundschreiben und Petitionen ist immer wieder von einer EU-Richtlinie namens Traditional Herbal Medical Product Directive (THMPD) die Rede, die tatsächlich existiert. Sie wurde 2004 verabschiedet und gilt in Deutschland seit 2005. Es handelt sich dabei aber nicht um ein Verbot von Heilpflanzen oder pflanzlichen Arzneimitteln, sondern vielmehr um eine Angleichung der Zulassungsstandards rezeptfreier pflanzlicher Fertigarzneimittel auf EU-Ebene. In Deutschland gibt es schon seit längerer Zeit relativ strenge Gesetze, weshalb die Auswirkungen der Richtlinie hierzulande vergleichsweise gering sind.
Wesentlich härter als den deutschen Markt trifft es bspw. den britischen, wo bislang "traditionelle Arzneimittel" ohne besondere Zulassungsbeschränkungen vertrieben werden durften. So konnten dort ohne Probleme Präparate aus Asien verkauft werden, die (wissentlich) stark mit Schadstoffen wie Blei, Arsen und Quecksilber belastet sind. Und genau dort nahm die ganze Heilpflanzenverbots-Kampagne ihren Anfang: Eine Lobbyfirma aus Dorking, die sich um die Belange der entsprechenden Industrie kümmert, setzte 2010 das Gerücht vom Heilpflanzenverbot in die Welt. Man sah schlichtweg seine mit Arsen verseuchten Pillen davonschwimmen...
Nach Deutschland schwappte die Panik dann mittels einschlägiger Blogs für Verschwörungstheorien über. Im Herbst 2010 unterzeichneten mehr als 120.000 Bürger eine Petition an den Bundestag, eine weitere Petition auf internationaler Ebene hat gegenwärtig annähernd 900.000 virtuelle Unterschriften. Doch beide Petitionen sind inhaltlich falsch und gehen am eigentlichen Thema vorbei.
Ein imaginäres Beispiel:
Nehmen wir an, ein Mönch hätte im Mittelalter eine Handschrift verfasst, in der die besondere Heilwirkung gewöhnlichen Strohs behandelt wird. Nehmen wir außerdem an, in dieser Handschrift sei von einer Verstärkung der Heilwirkung durch die Beigabe von Blei die Rede. In einigen Ländern der EU wäre dieses "traditionelle Arzneimittel" bislang frei verkäuflich gewesen, in Deutschland jedoch nicht. Würde man jetzt dieses Stroh (ohne das Blei) als Nahrungsmittel anbieten und eine Heilwirkung lediglich implizieren, so wäre dies weiterhin vollkommen legal - auch nach der Direktive. Würde man einen Arzt oder Apotheker finden, der bereit ist zu unterschreiben, so könnte man das Stroh ggf. sogar weiterhin als Arzneimittel verkaufen - denn es hat ja eine Tradition und ist scheinbar nicht gesundheitsgefährdend. Ein Wirksamkeitsnachweis wäre nach wie vor nicht unbedingt notwendig.
THMPD ist im Grunde also Verbraucherschutz und keineswegs ein Feldzug der Hersteller chemischer Arzneimittel, wie immer suggeriert wird. Kaum ein Pharmakonzern kommt ohne Pflanzenextrakte aus - schon gar nicht die Global Player. Pflanzliche Arzneimittel sind ein riesiges Geschäft und auch die ach so böse Pharmaindustrie verdient kräftig daran mit. Pflanzen sind aber nicht immer ungefährlich, sondern können zum Teil lebensgefährliche Vergiftungen hervorrufen. Hierzu muss man aber erst einmal wissen, was in manch geheimnisvollem Präparat überhaupt enthalten ist...
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